von Ute
Florian, der junge Student verbrachte seine Semesterferien vor Weihnachten in seiner Heimatstadt Bochum. Um seinen chinesischen Studienfreund in Xian zu besuchen, musste er Geld verdienen und zur Seite legen. Vielleicht konnte er einen Job als himmlische Friedenstaube, Rentier oder Weihnachtsmann ergattern. Er wusste noch nicht genau, wie er das anstellen sollte.
Jetzt schlenderte er über den Dr. Ruer-Platz, ein grauer, gepflasterter Platz, umgeben vom mehrstöckigem Häusern. In einem davon befand sich das große Wagner und Raschke – Spielzeugparadies, das Florian schon als Kind geliebt hatte. Ganz in Gedanken versunken stand er vor dem Playmobil Fenster mit dem überdimensionalen Adventskalender, als er ein Schild entdeckte: Weihnachtmann für unseren Schlitten auf dem Drahtseil gesucht! Bitte in unserer Personalabteilung melden.
Das anschließende Gespräch mit dem Mitarbeiter aus dem Spielzeugparadies verlief für Florian enttäuschend. Die Fahrt mit dem Schlitten und den Plastikrentieren war eine artistische Herausforderung in 60 m Höhe quer über den Platz, für die die Werbegemeinschaft einen professionellen Artisten suchte, Seiltänzer, Trapezkünstler u.ä.
„Keine Action, kein Abenteuer, keine Knete!“, seufzte der Student enttäuscht.
„Halt!“, sagte der Personaler. „Ich habe vielleicht doch noch etwas für dich. Du gehst zusammen mit einem hübschen Christkind über den Weihnachtsmarkt und ihr verteilt Präsente entsprechend den Nummern auf den Glückslosen: hellblaue Präsente an die Jungs, rosa Präsente an die Mädels!“ Da Arbeitszeit und Bezahlung stimmten, willigte Florian in das Angebot ein.
Florian traf das Christkindl am Kinderkarussell.
Sofort war er hingerissen von dem Anblick der jungen Frau: Auf die Schulter herabfallende blonde Locken rahmten ein fast makelloses Gesichtchen ein, in dem zwei Kornblumen blaue Augen ihn anleuchteten.
“Hi. ich bin der Weihnachtsmann, ich bin dein alter Ego, wir gehen zusammen auf Tour“, versuchte Florian einen Scherz zu machen.
„Äh, Alter, bist ganz gewiss nicht mein Ego, wir sind nur Business-Partner“, antwortete sie schnippisch.
„Eine Zicke, auch das noch! Abwarten! Wenn ich erst einmal meinen Charme spielen lasse, dann wird alles anders“, dachte der Student.
„Hast du Erfahrung im Marketing?“, fragte er und wollte dabei wie ein Profi klingen.
„Im Selbstmarketing schon, ich habe bei GNTM teilgenommen und wurde dann unter 5000 Einsendungen zum Nürnberger Christkindl des Jahres gewählt. Dieses Weihnachtsfest will ich mit meiner Modell Karriere loslegen.“
Sie könnte zum Gesicht für sein Start-up werden, überlegte Florian. Aber vorher hatten sie beide noch einen anderen Job zu erledigen. Und zwar gemeinsam! Florian fragte seine Kollegin nach ihrem Namen, denn er wollte sie nicht Christkindl nennen.
„Sag einfach Chrissy zu mir, mehr musst du nicht kennen.
Als es dunkel wurde, umrundeten sie den Weihnachtsmarkt.
Die kleinen Jungen mit ihren hellblauen Gewinnerzahlen kamen auf Florian zu. Er freute sich jedes Mal riesig mit ihnen über die kleinen Spielzeug-Gewinne und plauderte mit ihnen über Lego, Transformer und Playmobil Neuigkeiten. Dabei zauberte er ihnen ein Lächeln ins Gesicht, wie es sich für einen falschen Weihnachtsmann gehörte.
Ganz anders verhielt sich Chrissy. Kam ein kleines Mädchen mit einem rosa Gewinnerlos zu ihr, dann griff das gewählte Christkind in seinen Korb nach dem passenden Spielzeug und gab es dem Kind mit den Worten: Da hast’ es! Und sie ging einfach weiter. Die sprachlosen Mädchen starrten ihr hinterher, weil sie sich das Christkind wie einen netten Engel vorgestellt hatten.
Florian schüttelte den Kopf, so konnte es nicht weitergehen. Mit diesen erbärmlichen Auftritten wären sie ihren Job schon am ersten Abend los.
„Chrissy, du siehst wirklich süß und unschuldig aus wie ein Engel, aber du musst dich den kleinen Mädchen gegenüber auch so verhalten, als kämst du direkt aus dem Himmel!“
„Das ist doch alles nur Weihnachtskitsch, daran glaube ich nicht“, antwortete sie mürrisch. „Du vielleicht nicht, aber die kleinen Kinder. Mach ihnen ihre Träume nicht kaputt. Außerdem ist dein abweisendes Verhalten schädlich fürs Geschäft. Ein Spion von Wagner und Raschke ist auf dem Weihnachtsmarkt unterwegs und beobachtet uns.“
Chrissy zuckte erschrocken zusammen.
„Das habe ich nicht gewusst, ich gebe mir jetzt Mühe. Du machst das wirklich super, wie du mit den Kindern umgehst.“
Bei den nächsten Runden über den Weihnachtsmarkt gaben Weihnachtsmann und Christkind alles, um Kinderherzen höher schlagen zu lassen. Auch Chrissy bemerkte erstaunt, dass es ihr sogar Spaß machte, über Baby Born und Barbie zu plaudern. Da konnte sie mit ihren eigenen Erfahrungen bei den jungen Puppenmüttern punkten. Schönheitsartikel wie Glitzer und Haarspangen waren auch dankbare Themen, damit hatte sie als Model reichlich Erfahrung.
Florian blickte zum Himmel und dann auf das über den Platz gespannte Seil. Gerade wollte sein Kollege im Weihnachtsmannkostüm von Dach der Sparkasse in den Schlitten klettern, um über das Seil zu gleiten, als es knallte und zischte und alle Lichter ausgingen. Die Weihnachtssterne, die Girlanden, die Schaufenster, die Verkaufsbuden – alles lag in Dunkelheit.
„Blackout auf dem Weihnachtsmarkt! Danke Herrgott!“, dachte Florian und nutzte den Augenblick. Er küsste das Christkind an seiner Seite. Chrissy war so überrascht, dass sie ihn gewähren ließ. Außerdem fand sie ihn längst lieb und süß.
„Was kommt als Nächstes?“, fragte sie amüsiert.
„Ich lade dich in mein Kinderzimmer ein und wir entwickeln gemeinsam eine Weihnachtsapp“, schlug Florian vor.
„Super, es soll eine Dating-App für den Weihnachtsmarkt werden: Begegne deinem Weihnachtsmann oder deinem Christkind!“, rief Chrissy begeistert.
„Und du bist das Werbegesicht!“
„Und du auch.“ Chrissy lachte. Arm in Arm verließen Weihnachtsmann und Christkind den Markt, obwohl die Lichter längst wieder leuchteten und der Kollege auf dem Seil in rasanter Fahrt hoch oben über den Platz glitt.
(c) Ute Taube 2022