von Gertraud
Dem Onkel Albert ist drei Tage vor Weihnachten die Frau weggelaufen. Sie hat ihre Sachen und das Kind gepackt und ist zurück zu ihrem Vater. Nicht, dass das weit weg war. Nur fünf Häuser. Mein Onkel hat meinen Vater hingeschickt, er solle mit ihr reden.
„Und?“, fragte Mama, als der Babba wieder heimkam.
„Diesmal ist es endgültig, hat sie gesagt.“
„Meinst wirklich?“
„Ich glaub schon. Die ist so stur wie ihr Vater.“
„Und der Albert?“
„Er sagt, dann erschießt er sich.“
„Hat der seine Pistole noch?“
„Ja, hat er. Kennst ihn ja.“
Onkel Albert war Grenzer. Damals gab es viele Grenzer oder wie man heute sagt Zollbeamte. Die einen patrouillierten an der Saalach entlang, denn das war NATO-Grenze zum feindlichen Österreich, die anderen standen an der Grenzstation und kontrollierten die Ausweise. Die Pistolen hatten sie, um die Schmuggler aufzuhalten. Geschmuggelt wurde damals viel. Einmal hat ein Grenzer einen Mann angeschossen, der durch die Saalach gewatet ist. Alle Leute waren empört. Denn der hat gar nichts geschmuggelt, sondern nur seinen Ausweis vergessen gehabt.
Mittlerweile war Onkel Albert im Innendienst. Seine Pistole hatte er einfach nicht abgegeben.
Weil der Babba wirklich Angst hatte, dass der Onkel Albert sich erschießt, hat er ihn am Heilig Abend zu uns geholt. Wie der Albert seinen Mantel ausgezogen hat, hat der Babba gemerkt, dass er die Pistole in der Manteltasche hat.
„Die Pistoln bleibt im Auto!“, sagte die Mamma. „Wir haben hier Kinder. Bring die Pistoln hinaus.“
Murrend brachte Albert die Pistole in die Garage.
Dann gab es Essen: Würstl und Kartoffelsalat. Onkel Albert war schon ziemlich angedudelt, deswegen gab es für ihn nur Limo zu trinken.
„I ko nix essn“, sagte er.
„Du isst jetzt was!“, befahl der Babba.
„I ko ned“, erwiderte Albert mit Tränen in den Augen.
„Du isst, dann gehts dir glei besser.“
Mamma gab ihm ein Würstl und einen Löffel Salat. Mit angewidertem Gesicht biss Albert in das Würstl. Dann war es – schwupp – weg und er nahm sich noch eins. Und noch eins. Meine beiden Brüder schauten ihm mit großen Augen zu.
„Jetzt kannst mir ein Bier geben“, sagte er zum Babba.
„Du hast heut schon genug Bier gehabt.“
„Jetzt hab ich aber eine Unterlage.“
„Nichts da.“
„Geh weida, ein Bier noch, das geht doch.“
Also ging Babba in den Keller und holte zwei Flaschen Bier, eine für Albert und eine für sich.
Dann warteten wir auf die Bescherung. Wir Kinder mussten singen. Der Onkel sang mit, das war so schrecklich, dass wir gleich wieder aufhörten. Der Babba öffnete die Tür zum Wohnzimmer – drin war es dunkel – und schlüpfte hinein. Wir hörten ihn rascheln und brummen und mit jemandem reden. Dann endlich klingelte das Glockerl! Wir durften hinein. Drin stand der Christbaum, hell beleuchtet mit der neuesten Erfindung: elektrischen Kerzen! Drum herum lagen die Geschenke. Ich bekam Ski, weil ich im Februar ins Skilager fahren sollte, Skischuhe und Socken, einen dicken Pullover und drei neue Unterhosen. Zuunterst endlich das ersehnte Geschenk: ein Buch von Enid Blyton. Ich zog mich in ein Eck zurück und begann sofort zu lesen. Mein größerer Bruder hat den „Lederstrumpf“ bekommen. Den würde ich als nächstes lesen, dann, wenn er mit seinem neuen Märklin-Kasten beschäftigt war. Der Kleine schob sein rotes Auto durchs Zimmer.
Auch für den Onkel hatte der Babba auf die Schnelle noch Geschenke besorgt: eine Krawatte und ein Paar Socken. Onkel Albert machte ein riesiges Gedöns um die Krawatte, wie schön die wäre, und wie schön er selber wäre mit dieser Krawatte und dass eine Krawatte das einzige Kleidungsstück wäre, das ein Mann brauchen würde. Ja, Socken auch. Aber zwischen Socken und Krawatte nichts.
Dann holte Babba den Sekt herein, den er draußen kalt gestellt hatte. Mamma stellte die Sektgläser bereit.
„Gib her“, sagte Onkel Albert, „den mach ich auf.“
Der Korken schoss heraus und ein Strahl Sekt hinterher bis an die Zimmerdecke. Roter Sekt! Hat der Babba extra für die Mamma gekauft. Der Babba riss ihm die Flasche aus der Hand und goss die Gläser voll.
„Ich mag eh keinen“, sagte Albert. „Sekt saufen nur die Weiber.“
Aber ich bekam ein halbes Glas.
„Wie alt ist denn die Trudi?“, fragte Albert. „Was? Schon 16! Da wird es ja Zeit. Hast du schon einmal, Trudi?“
Dabei schaute er mich so komisch an.
„Lass die Trudi in Ruhe“, knurrte der Babba. Aber Albert war schon in Fahrt.
„Am besten wäre es ja für die Trudi, wenn ein erfahrener Mann, also, nicht so ein Halbstarker, sondern ein Mann, der was davon versteht, von Frauen versteht, mein ich, also, wenn so ein Mann…“
„Schluss jetzt“, sagte der Babba. „Die Trudi lässt du in Ruhe.“
„Ich mein es doch nur gut mit ihr.“
Die Mamma nahm mich auf die Seite: „Am besten du verschwindest jetzt ins Bett. Und sperr dein Zimmer zu!“
Das tat ich dann auch. Das Buch habe ich dann gleich ausgelesen im Bett.
Am nächsten Morgen lag der Onkel auf dem Kanapee im Wohnzimmer. Er schaute fürchterlich aus: rote Augen, die Haare hingen ihm in fettigen Strähnen ins Gesicht, sein Hemd und seine Hose waren zerknittert, weil er darin geschlafen hatte.
„Steh auf“, sagte der Babba, „wasch dich und richt dich ordentlich her.“
„Erst brauch ich einen Kaffee.“
„Der läuft schon durch“, sagte die Mamma. „Bis du gewaschen bist, ist er fertig.“
„Ich warte lieber.“
„So setzt du dich nicht zu uns an den Tisch.“
Er zog ab ins Badezimmer.
Muss den die Tante jeden Tag so anschauen in der Früh?, überlegte ich. Kein Wunder, dass sie weggelaufen ist.
„Ich kann schon verstehen, dass die Roswitha ihn nicht mehr mag“, sagte ich zur Mamma.
„Ich auch. Aber das war nicht der Grund, warum sie weggegangen ist.“
„Sondern?“.
Sie kam nicht dazu, mir das zu erklären, weil der Babba wieder in die Küche kam. Aber ich konnte es mir schon denken. Der Albert hatte wahrscheinlich wieder eine Liebschaft nebenher.
Zum Frühstück gab es heute etwas Besonderes: einen Pfirsichkuchen mit Pfirsichen aus der Dose, mit Tortenguss festgepappt auf einem goldgelben Kuchenboden. Der Onkel wollte nichts davon, trank nur Kaffee.
„Fahr mich jetzt heim“, verlangte er dann.
„Willst nicht zum Mittagessen bleiben?“
„Nein, ich muss heim.“
„Dann kannst du uns in die Kirche mitnehmen im Auto“, jubelten meine Brüder.
Wir quetschten uns auf die Rückbank.
„Wo ist meine Pistol`n?“, fragte Albert, als wir grad losfuhren.
„Die bleibt bei mir“, sagte der Babba.
„Das geht nicht. Du hast keinen Schein.“
„Das ist mir egal.“
„Ich brauch meine Pistol´n wieder.“
„Du musst die ja schnellstens abgeben.“
„Jaja, mach ich gleich am Dienstag.“
„Versprochen?“
„Ich schwöre es,“ und er hob die Hand.
Also stieg der Babba wieder aus und holte die Pistole aus dem Versteck im Hühnerstall.
Vor der Kirche ließ uns der Babba aussteigen.
„Du könntest auch einmal wieder in die Kirch` gehen“, sagte der Babba zum Albert.
„Ach, du weißt ja, ich hab eine andere Kirche, da geh ich jetzt dann hin. Aber erst muss ich mich sauber anziehen und rasieren.“
„In welche andere Kirche geht denn der Onkel?“, wollte mein kleiner Bruder wissen, als wir über den Platz vor der Kirche gingen. Der Platz war voller Männer. Denn die gehen erst zur Predigt in die Kirche hinein. Oder noch später und dann gleich als erste wieder hinaus und zum Wirt.
„Das verstehst du noch nicht“, sagte mein größerer Bruder.
„Und da braucht er die Pistol`n?“
(C) 2022 Gertraud Schubert